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Verschämter Blick


Verschämter Blick    

   

Die Idee ist einfach: Lebensmittel, die Händler sonst wegwerfen, werden für Bedürftige gesammelt. Die einen sparen so Entsorgungskosten, die anderen werden satt. Während jedoch die Armut im Land wächst, sinkt die Menge der gespendeten Waren. Deshalb scheitert die Idee immer öfter.          

Von Kristin KAISER          

Es war ein guter Tag. Obwohl die Obst- und Gemüsekisten schon nach einer Stunde leer waren und sich die 72-Jährige vergeblich einen Liter Milch gewünscht hat. Aber die reichte doch nicht einmal für die Familien mit kleinen Kindern. Dagmar Kratz kehrt die letzten Brotkrümel in der Ausgabestelle der Weimarer Tafel zusammen und ist zufrieden. „Heute konnten wir sogar Wurst verteilen", sagt die Ehrenamtliche. Etwa 80 Leuten hat sie Taschen, Körbe und Beutel gefüllt, mit einer 44-jährigen Frau plauderte sie auch einen Augenblick. Man kennt sich. Ihren Namen will die Frau nicht in der Zeitung lesen. Wer mag schon gern als bedürftig dastehen, fragt ihr Blick verschämt. Aber mit drei Jungs zuhause und ohne Arbeit seit mehr als vier Jahren schon kann sie eben nicht über die Runden kommen. Drei Mal in der Woche kommt die 44-Jährige deshalb zur Tafel, manchmal auch vergebens: Ein bis zwei Mal im Monat wird so wenig gesammelt, dass die Ausgabestelle gar nicht erst öffnet. Das sind die schlechten Tage.    

In Mühlhausen musste die Zahl der Ausgabetage von drei auf zwei pro Woche reduziert werden. Ebenfalls mangels Lebensmitteln. Thüringenweit ging die Menge gespendeter Waren um ein Drittel gegenüber dem Vorjahr zurück, schätzt Beate Weber-Kehr, Landesbeauftragte beim Bundesverband Deutsche Tafeln. Zwar hielten fast alle Sponsoren die Treue, doch würden deren Spenden immer kleiner ausfallen. „Jeder will angesichts der wirtschaftlichen Misere im Land weniger Verluste einfahren und kalkuliert deutlich vorsichtiger." Unterdessen ist die Zahl der Thüringer, die mindestens einmal pro Woche kostenlos Lebensmittel bekommen, auf etwa 21 000 gestiegen. In Weimar erhöhte sich die Zahl binnen zwölf Monaten um 20 Prozent. Und mit dem Arbeitslosengeld II könnte alles noch schlimmer kommen, befürchtet Wolfgang Schüßler, der Tafel-Leiter.  Auch ohne die Tafeln müsste niemand im Freistaat verhungern, sagt Thomas Schulz vom Sozialministerium und verweist auf „das engmaschige soziale Netz". Der Sprecher weiß dennoch die Tafeln zu schätzen: „Denn es gibt Leute, die mit ihrem Geld nicht zurechtkommen oder die ihre Hemmschwelle gegenüber Behörden nicht überwinden können, um Sozialleistungen zu beantragen." Um annähernd die gleiche Lebensmittelmenge wie vor einem Jahr zu sammeln, nehmen es manche Tafeln in Kauf, bis zu einem Drittel mehr Kilometer zu fahren. Ray Koroletz von der Erfurter Tafel fährt 90 Kilometer für sieben Kisten Brot und Brötchen von vorgestern nach Frömmstedt. Wurstzipfel kann er donnerstags in Suhl abholen, immerhin. Fleisch verteilen die Erfurter schon seit einem Jahr nicht mehr, der kleine Laden, der sie unterstützte, ging pleite.    

Jürgen K. ist das erste Mal bei der Tafel. Beim Warten umfasst seine Hand die seines vierjährigen Sohnes Alexander, so recht aber ist nicht klar, wer wen hält. Jürgens Beine zittern, sein Atem verrät den Alkoholkonsum. Und seinen Ausweis, sagt er, hat er vergessen. Der ehren-amtliche Helfer Ralf  Springorum drückt ein Auge zu und reicht Zucchinis, Brot, eine Schokolade für Alex und vieles mehr über den Tresen.  Berechtigungs-Ausweise geben die Tafeln an alle ab, die Sozialhilfe, Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe beziehen. Mancherorts auch an Alleinerziehende und Rentner. Einmal im Jahr wird die Bedürftigkeit geprüft, anhand der amtlichen Leistungsbescheide. „Auf den Papieren passt das schon alles, aber Sie wissen ja selbst, wie das mit der Schwarzarbeit ist", weist Ray Koroletz von der Erfurter Tafel auf  Schwindler. Damit leben die Helfer. Wie auch mit der Tatsache, dass sie manche Bedürftige gar nicht erreichen. Den Obdachlosen etwa, der abends in den Mülltonnen der Erfurter Tafel gewühlt hat, bis Koroletz kürzlich Schlösser angebaut hat. Ihm zuliebe.          

Anzeigensonderveröffentlichung          

    

BEDÜRFTIG: Auf die Lebensmittel der Tafeln sind rund 21 000 Thüringer Woche für Woche angewiesen, Tendenz stark steigend.
 

TA-Foto: S. FROMM



 

Geschrieben von: Admin am 05.06.2004

 

 

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